Megaloblastäre Anämie – Ursachen

Pathogenese (Krankheitsentstehung)

Die megaloblastäre Anämie ist durch eine gestörte DNA-Synthese in den Vorläuferzellen des Knochenmarks gekennzeichnet, was zu einer verzögerten Zellteilung und der Bildung von Megaloblasten führt. Megaloblasten sind große, unreife Erythrozyten-Vorläuferzellen mit einem ungleichmäßigen Kern-Zytoplasma-Verhältnis.

Hauptursachen:

  • Vitamin B12-Mangel-Anämie
    • Vitamin B12 (Cobalamin) ist entscheidend für die DNA-Synthese, insbesondere bei der Umwandlung von Methylmalonyl-CoA zu Succinyl-CoA und der Synthese von Methionin aus Homocystein.
    • Ein Mangel an Vitamin B12 führt zur Akkumulation von Homocystein und Methylmalonat sowie zu einer gestörten DNA-Reifung in den Vorläuferzellen.
    • Die häufigste Form der Vitamin B12-Mangelanämie ist die perniziöse Anämie, bei der der Intrinsic Factor, der für die Resorption von Vitamin B12 im terminalen Ileum notwendig ist, nicht ausreichend produziert wird. Dies ist meist Folge einer Autoimmunerkrankung, bei der die Parietalzellen des Magens zerstört werden (chronische Gastritis Typ A).
    • Weitere Ursachen: Malabsorption im Dünndarm, chronische Darmentzündungen (CDE) (z. B. Morbus Crohn), chirurgische Resektionen (z. B. Magenresektion/operative Magenentfernung).
  • Folsäuremangelanämie
    • Folsäure ist ebenfalls essentiell für die DNA-Synthese, da sie als Coenzym bei der Übertragung von Kohlenstoffgruppen in der Purin- und Pyrimidinsynthese wirkt.
    • Ein Mangel an Folsäure führt zu einer Verzögerung der DNA-Replikation und somit zur Bildung von Megaloblasten.
    • Folsäuremangel tritt häufig bei Malnutrition, Malabsorption (z. B. Zöliakie), chronischem Alkoholkonsum oder einem erhöhten Bedarf (z. B. während der Schwangerschaft) auf.
  • Medikamenteninduzierte megaloblastäre Anämie
    • Verschiedene Medikamente, die die DNA-Synthese hemmen, wie Methotrexat, Azathioprin, Hydroxyharnstoff oder Chemotherapeutika, können eine megaloblastäre Anämie verursachen.
    • Diese Medikamente inhibieren die Purin- und Pyrimidinsynthese oder die Umwandlung von Folsäure in ihre aktive Form.
  • Angeborene Defekte der DNA-Synthese:
    • Seltene genetische Defekte wie die orotische Azidurie führen zu einer gestörten Purinsynthese, was zur Bildung von Megaloblasten führt.
  • Alkoholbedingte megaloblastäre Anämie
    • Chronischer Alkoholkonsum hemmt die Aufnahme und Verstoffwechselung von Folsäure und Vitamin B12, was die DNA-Synthese beeinträchtigt und zur megaloblastären Anämie führt.
  • Lebererkrankungen
    • Lebererkrankungen beeinträchtigen den Folsäurestoffwechsel und führen zu einer ineffizienten Reifung der Erythrozyten.

Pathophysiologische Mechanismen

  • Bei allen Formen der megaloblastären Anämie kommt es zu einer Verzögerung der DNA-Synthese, während die RNA-Synthese weitgehend unbeeinträchtigt bleibt. Dies führt dazu, dass die Zellen in einem unausgewogenen Wachstumsstadium verharren.
  • Dadurch entstehen große, kernhaltige Vorläuferzellen (Megaloblasten), die ihre normale Reifung nicht vollenden können.
  • Im Knochenmark zeigt sich eine ineffiziente Hämatopoese (Blutbildung) mit ineffektiver Erythropoese (Bildung von Erythrozyten/rote Blutkörperchen), was zu einer hämolytischen Komponente führt, da viele der defekten Vorläuferzellen vorzeitig zugrunde gehen.
  • Die Anämie (Blutarmut) ist durch große, unreife Erythrozyten und eine gestörte Zellteilung charakterisiert.

Ätiologie (Ursachen)

Ätiologie der megaloblastären Anämie aufgrund eines Vitamin-B12-Mangels

Biographische Ursachen 

  • Genetische Belastung – genetisch bedingte Enzymdefekte
  • Lebensalter – höheres Alter 

Verhaltensbedingte Ursachen

  • Ernährung
    • Veganer – Verzicht auf tierische Produkte erhöht das Risiko für einen Vitamin-B12-Mangel.
    • Vegetarier – Einschränkung von tierischen Lebensmitteln kann zu suboptimaler Vitamin-B12-Zufuhr führen.
    • Mikronährstoffmangel (Vitalstoffe) – Siehe Prävention mit Mikronährstoffen.
  • Genussmittelkonsum
    • Alkoholkonsum – Regelmäßiger Konsum beeinträchtigt die Resorption von Vitamin B12 im Darm.

Krankheitsbedingte Ursachen

  • Achlorhydrie im Magen – Zustand durch fehlende oder unzureichende Magensaftproduktion
  • Amyloidose – extrazelluläre ("außerhalb der Zelle") Ablagerungen von Amyloiden (abbauresistente Proteine), die u. a. zu einer Kardiomyopathie (Herzmuskelerkrankung), Neuropathie (Erkrankung des peripheren Nervensystems) und Hepatomegalie (Lebervergrößerung) führen können.
  • Chronische atrophische Gastritis (Magenschleimhautentzündung)
  • Chronische Pankreatitis (Bauchspeicheldrüsenentzündung)
  • Diabetes mellitus (Zuckerkrankheit)
  • Imerslund-Gräsbeck-Syndrom – selektive Malabsorption des Cobalamins
  • Infektion mit dem Fischbandwurm
  • Malabsorptionssyndrom – Störung in der Nährstoffaufnahme
  • Morbus Crohn – chronisch-entzündliche Darmerkrankung (CED); sie verläuft meist in Schüben und kann den gesamten Verdauungstrakt befallen; charakterisierend ist der segmentale Befall der Darmmukosa (Darmschleimhaut), das heißt es können mehrere Darmabschnitte befallen sein, die durch gesunde Abschnitte voneinander getrennt sind
  • Morbus Whipple – eine durch das grampositive Stäbchenbakterium Tropheryma whippelii ausgelöste, chronisch-rezidivierende Erkrankung, die den gesamten Körper betreffen kann (Symptome: Fieber, Gelenkbeschwerden, Störungen der Gehirnfunktion, Gewichtsverlust, Durchfall, Bauchschmerzen u.v.m.)
  • Neoplasien (Neubildungen)
  • Parasitenbefall des Darms
  • Sklerodermie – Gruppe verschiedener seltener Erkrankungen, die mit einer Bindegewebsverhärtung der Haut allein oder der Haut und innerer Organe (besonders Verdauungstrakt, Lungen, Herz und Nieren) einhergehen
  • Syndrom der blinden Schlinge – Syndrom, das nach Darmoperationen auftreten kann; Ursache ist die chronische Stauung von Darminhalt in einem Darmabschnitt, der blind endet
  • Transcobalamin-II-Mangel – Mangel an einem Transportprotein für das Vitamin B12
  • Tropische Sprue – chronische Darmerkrankung, die mit Fettstühlen, Vitalstoffmangelzuständen (Mikronährstoffe) und Abmagerung einhergeht; kommt in den Tropen vor
  • Tuberkulose (Schwindsucht)
  • Zöliakie (gluteninduzierte Enteropathie) – chronische Erkrankung der Dünndarmmukosa (Dünndarmschleimhaut), die auf einer Überempfindlichkeit gegen das Getreideeiweiß Gluten beruht
  • Zollinger-Ellison-Syndrom – meist bösartige Neubildung, die mit vermehrter Gastrinproduktion einhergeht und so zum vermehrtem Auftreten von Magengeschwüren führt

Operationen

  • Dünndarmresektion (Entfernung des Dünndarms)
  • Gastrektomie (Magenentfernung)

Medikamente (medikamenteninduzierte Ursachen eines B12-Mangels)

  • Antikonvulsiva (z. B. Phenytoin, Phenobarbital, Primidon) – Beeinträchtigen die intestinale Absorption von Vitamin B12.
  • Chloramphenicol – Kann die Knochenmarksfunktion zusätzlich beeinträchtigen.
  • Colchicin – Hemmt die Zellteilung und stört die intestinale Resorption.
  • H2-Rezeptorantagonisten (z. B. Ranitidin, Famotidin) – Verringern die Magensäuresekretion und behindern die Freisetzung von Vitamin B12 aus Nahrungsproteinen.
  • Methotrexat – Hemmt die DNA-Synthese; relevant im Rahmen kombinierter Folsäure-/B12-Mangelzustände.
  • Metformin – Beeinträchtigt die intestinale Aufnahme von Vitamin B12.
  • Neomycin – Antibiotikum, das die Resorption im Dünndarm hemmt.
  • Nitrous Oxide (Lachgas) – Oxidiert Cobalamin irreversibel und macht es funktionell inaktiv.
  • Protonenpumpenhemmer (PPI) (z. B. Omeprazol, Pantoprazol) – Reduzieren die Magensäureproduktion und somit die Freisetzung von Vitamin B12 aus der Nahrung.
  • Pyrimethamin und Trimethoprim – Hemmen die Dihydrofolatreduktase und können kombinierte Folsäure- und Vitamin-B12-Störungen verstärken.

Ätiologie der perniziösen Anämie (Unterform der Vitamin-B12-Mangelanämie)

Biographische Ursachen

  • Lebensalter 
    • höheres Lebensalter
    • Kinder (unter zehn Jahren)

Krankheitsbedingte Ursachen

  • Agammgaglobulinämie – Mangel bzw. vollständiges Fehlen von Immunglobulinen (Antikörpern), die zu schweren Immundefekten führen
  • Hypoparathyreoidismus (Nebenschilddrüsenunterfunktion)
  • Idiopathische Nebennierenrindeninsuffizienz
  • Morbus Basedow – Autoimmunerkrankung, die zu einer Hyperthyreose (Schilddrüsenüberfunktion) führt
  • Thyreoiditis (Schilddrüsenentzündung)
  • Vitiligo (Weißfleckenkrankheit)

Ätiologie der megaloblastären Anämie aufgrund eines Folsäuremangels

Biographische Ursachen

  • Genetische Belastung – genetisch bedingte Enzymdefekte
  • Lebensalter
    • Kinder im Wachstumsschub
    • Neugeborene
    • Mit steigendem Alter nimmt die intestinale Resorptionsleistung ab, zudem sind ältere Menschen häufiger polymediziert und leiden unter chronischen Erkrankungen, die die Folsäureverwertung beeinträchtigen.

Verhaltensbedingte Ursachen

  • Ernährung
    • Einseitige Ernährung – Besonders bei Jugendlichen und älteren Menschen verbreitet; oft fehlen ausreichende Mengen an Gemüse, Obst und Vollkornprodukten.
    • Mikronährstoffmangel (Vitalstoffe) – Folsäure ist essenziell für die DNA-Synthese und Zellteilung; siehe Prävention mit Mikronährstoffen.
  • Genussmittelkonsum
    • Alkoholabusus – Chronischer Alkoholkonsum reduziert die Aufnahme und Verwertung von Folsäure.
    • Drogenkonsum – Abhängigkeit von Substanzen wie Opioiden oder Kokain führt zu Malnutrition und Folsäuremangel.
  • Psycho-soziale Situation
    • Mangelernährung durch Armut – Eingeschränkter Zugang zu folsäurereichen Lebensmitteln.
    • Essstörungen – Anorexia nervosa oder Bulimie erhöhen das Risiko für Folsäuremangel.

Krankheitsbedingte Ursachen

  • Chronische hämolytische Anämie
  • Chronische exfoliative (schuppende) Hauterkrankungen
  • Einheimische Sprue – chronische Darmerkrankung, die mit Fettstühlen, Vitalstoffmangelzuständen (Mikronährstoffe) und Abmagerung einhergeht
  • Maligne Erkrankungen (Krebsleiden)
  • Tropische Sprue – chronische Darmerkrankung, die mit Fettstühlen, Vitalstoffmangelzuständen (Mikronährstoffe) und Abmagerung einhergeht; kommt in den Tropen vor

Medikamente (medikamenteninduzierte Ursachen eines Folsäuremangels)

  • Barbiturate (z. B. Phenobarbital) – Induzieren mikrosomale Leberenzyme und beschleunigen den Folsäuremetabolismus.
  • Carbamazepin – Antikonvulsivum; reduziert Plasmaspiegel von Folsäure durch beschleunigten Metabolismus.
  • Cholestyramin – Gallensäurebinder; kann auch fettlösliche Vitamine und Folsäure binden und so die Absorption hemmen.
  • Cycloserin – Antibiotikum; kann mit Folsäuremetabolismus interferieren (selten, aber dokumentiert).
  • Hydroxyurea (Hydroxycarbamid) – Zytostatikum; bei längerem Einsatz erhöhter Bedarf an Folsäure.
  • Isoniazid – Antituberkulotikum; hemmt indirekt die Umwandlung von Folsäure in aktive Formen.
  • Lamotrigin – Antiepileptikum; möglicherweise mit Störung der Folsäurehomöostase assoziiert.
  • Methotrexat – Dihydrofolatreduktase-Inhibitor; blockiert die Umwandlung von Folsäure zu Tetrahydrofolat.
  • Metformin – Kann zusätzlich zur Beeinflussung des B12-Stoffwechsels auch den Folsäurestatus negativ beeinflussen.
  • Nitrofurantoin – Harnwegsantibiotikum; bei Langzeiteinnahme in Einzelfällen mit Folsäuremangel assoziiert.
  • Pentamidin – Antiprotozoikum; hemmt indirekt den Folsäuremetabolismus.
  • Phenobarbital – siehe Barbiturate.
  • Phenytoin – Antikonvulsivum; reduziert intestinale Absorption und erhöht metabolische Inaktivierung von Folsäure.
  • Primidon – Prodrug von Phenobarbital; gleiches Wirkprofil bezüglich Folsäure.
  • Pyrimethamin – Antimalariamittel; potenter Dihydrofolatreduktase-Hemmer.
  • Sulfasalazin – Hemmt die intestinale Folsäureresorption, insbesondere bei CED-Patienten.
  • Triamteren – Kaliumsparendes Diuretikum; hemmt Dihydrofolatreduktase in vitro.
  • Trimethoprim – Hemmt selektiv die bakterielle und auch menschliche Dihydrofolatreduktase.

Weitere Ursachen

  • Dialyse (Nierenersatzverfahren; Blutwäsche) 
  • Schwangerschaft

Ätiologie der megaloblastären Anämie ohne einen Vitamin-B12- oder Folsäuremangel

Biographische Ursachen

  • Genetische Belastung – genetisch bedingte Enzymdefekte wie das Lesch-Nyhan-Syndrom

Krankheitsbedingte Ursachen

  • Akute Erythroleukämie – Blutkrebs, der die roten Blutkörperchen (Erythrozyten) betrifft
  • Myelodysplastisches Syndrom (MDS) – erworbene klonale Erkrankungen des Knochenmarks, die mit einer Störung der Hämatopoese (Blutbildung) einhergeht

Medikamente

  • Antiepileptika wie Phenytoin oder Phenobarbital – Medikamente gegen epileptische Anfälle
  • Purinantagonisten – Medikamente wie Mercaptopurin oder Azathioprin, die zur Immunsuppression eingesetzt werden
  • Pyrimidinantagonisten – Medikamente wie Fluorouracil, Procarbarin oder Hydroxyurea, die als Zytostatika unter anderem bei Krebserkrankungen eingesetzt werden
  • Virostatika wie Aciclovir oder Zidovudin – Medikamente, die bei viralen Infektionen eingesetzt werden