Immundefekt – Infektanfälligkeit (Immundefizienz) – Ursachen
Pathogenese (Krankheitsentstehung)
Die Pathogenese einer Immundefizienz (Abwehrschwäche) ist komplex und hängt von der Art der Störung im Immunsystem ab. Es wird zwischen zellulären und humoralen Immundefekten unterschieden:
- Zelluläre Immundefekte: Hierbei sind primär Abwehrzellen (z. B. Lymphozyten) betroffen, die für die zelluläre Immunabwehr zuständig sind.
- Humorale Immundefekte: Bei dieser Form sind vor allem Antikörper und andere abwehraktive Immunglobuline betroffen, die die humorale Abwehr bilden.
- Kombinierte Immundefekte: Häufig sind sowohl das zelluläre als auch das humorale Immunsystem betroffen.
Die Ursachen einer Immundefizienz können angeboren (primäre Immundefekte, PID) oder erworben sein.
Immunseneszenz
Ein weiterer wichtiger Mechanismus der Immundefizienz ist die Immunseneszenz, die im Alter auftritt und das Ergebnis des physiologischen Alterns des Immunsystems darstellt. Diese betrifft sowohl das angeborene als auch das adaptive Immunsystem und beeinträchtigt die Schutzbarriere der Haut und Schleimhäute.
- Das angeborene Immunsystem wird im Alter durch chronische niedriggradige Entzündungen geschwächt, und die Immunantwort auf Pathogene wird ineffizienter.
- Die adaptive Immunität leidet unter einer reduzierten Produktion von neuen naiven Lymphozyten und einer Abnahme der Diversität.
Nachfolgend typische Veränderungen des alternden Immunsystems:
Zelltyp | Definition | Veränderung |
B-Zellen | = B-Lymphozyten; einzige Zellen, die in in der Lage sind Antikörper zu bilden. Sie machen zusammen mit den T-Lymphozyten den entscheidenden Bestandteil des adaptiven Immunsystems aus. |
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T-Zellen | Zellgruppe der Lymphozyten (Untergruppe der Leukozyten/weiße Blutkörperchen)); das "T" in T-Zelle steht für Thymus, wo deren Ausdifferenzierung stattfindet. |
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Makrophagen | Monozyten (Untergruppe der Leukozyten/weiße Blutkörperchen)), die ins Gewebe rekrutiert werden, um in Makrophagen (Fresszellen) zu differenzieren; daneben gibt es in allen Organen residente Makrophagen. |
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Dendritische Zellen | Zellen des Immunsystems, die sich je nach Typ entweder aus Monozyten oder aus Vorläufern der B- und T-Zellen entwickeln. |
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Natürliche Killerzellen (NK-Zellen; engl. Natural killer cells) | Lymphozyten mit zytotoxischer Aktivität, welche die Fähigkeit haben, bei bestimmten Zielzellen eine Apoptose (programmierter Zelltod) auszulösen. NK-Zellen im Blut werden als CD3-CD56+ definiert. |
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Die oben genannten Faktoren spiegeln den aktuellen Stand der Wissenschaft wider und zeigen, wie sowohl angeborene als auch erworbene Veränderungen zur Entwicklung einer Immundefizienz beitragen können.
Ätiologie (Ursachen)
Biographische Ursachen
- Primäre Immundefekte (PID)
- Defekte der B-Zell-Reihe wie
- Dysimmunoglobulinämien
- Kongenitale geschlechtsgebundene Agammaglobulinämie: z. B. Bruton-Syndrom (Synonym: Bruton-Agammaglobulinämie; monogenetischer Immundefekt; X‑chromosomal-rezessive Erkrankung)
- Selektiver IgA-Mangel
- Transitorische Hypogammaglobulinämie bei Säuglingen/Kleinkindern
- Defekte der T-Zell-Reihe wie
- Chronische mukokutane Candidiasis (Pilzerkrankung)
- Di-George-Syndrom – angeborene Deletion auf der q11-Region des Chromosoms 22, sporadisches Auftreten; rezidivierende Infektionen, tetanische Krämpfe, angeborene Herzfehler bzw. Fehlbildungen der Blutgefäße
- Nezelof-Syndrom – autosomal-rezessiver Erbgang; generelle Infektanfälligkeit
- Kombinierte T- und B-Zell-Defekte wie
- Agammaglobulinämie (Schweizer Typ)
- Episodische Lymphopenie mit Lymphozytotoxin
- Immunmangel mit dysproportioniertem Zwergwuchs
- Louis-Bar-Syndrom (Synonyme: (Ataxia teleangiectatica (Ataxia teleangiectasia); Boder-Sedgwick-Syndrom) – autosomal-rezessiver Erbgang; erste Symptome um das zweite bis dritte Lebensjahr; zerebelläre Ataxie (Gang- und Standunsicherheit) mit Kleinhirnatrophie (Substanzschwund); Teleangiektasien (sichtbare Erweiterungen oberflächlich gelegener kleinster Blutgefäße) vor allem im Gesicht und auf der Bindehaut des Auges auf; T-Zell-Defekt und damit verbunden eine verminderte Immunkompetenz; Hypersalivation (Speichelfluss) und Hypogonadismus (Keimdrüsenunterfunktion)
- Retikuläre Dysgenesie
- Variable Immunmangelkrankheiten (nicht klassifizierbar)
- Wiskott-Aldrich-Syndrom – X-chromosomal rezessiv vererbte Erkrankung mit Insuffizienz (Schwäche) der Blutgerinnung und des Immunsystems; Symptomentrias: Ekzem (Hautausschlag), Thrombozytopenie (Mangel an Blutplättchen) und rezidivierende Infektionen
- Phagozytosestörungen – Form der unspezifischen Infektabwehr – wie
- Chedak-Higaski-Syndrom – autosomal-rezessiver Erbgang; Charakteristika sind okulo-kutaner Albinismus (verminderte Pigmentierung), silbrig-blondem Haar, Hepatosplenomegalie (Leber- und Milzvergrößerung), Ganglion-Hypertrophie und rezidivierenden eitrigen Infektionen der Haut und der Atemwege
- Hiob-Syndrom – autosomal-dominanter Erbgang; charakteristisch sind Hautabszesse, rezidivierende Infektionen in Gesicht im Gesicht, der oberen Luftwege und Lungenentzündungen; bereits im Kinder- sowie Säuglingsalter ekzematoide Dermatitis (entzündliche Hautreaktion)
- Lazy-Leucocyte-Syndrom – unklarer Erbgang; rezidivierende Infektionen
- Myeloperoxidasedefekt
- Progressive septische Granulomatose
- Komplementdefekte – Komplementsystem = spezielle Immunabwehrsystem
- C1 - C9-Defekte
- Schwerer kombinierter Immundefekt (Severe combined Immunodeficiency, SCID) – Gruppe genetischer Erkrankungen (autosomal- oder X‑chromosomal-rezessive Gendefekte), die durch ein völliges Fehlen der Immunabwehr charakterisiert sind (Hemmung der Entwicklung von T-Lymphozyten sowie ggf. Fehlen der B-Lymphozyten und der NK-Lymphozyten); unbehandelt sterben die meisten Betroffenen bereits im Säuglingsalter; Prävalenz (Krankheitshäufigkeit) ca. 1:70.000
- Weitere genetische Erkrankungen
- Sichelzellenanämie (med.: Drepanozytose; auch Sichelzellanämie, engl.: sickle cell anemia) – genetische Erkrankung mit autosomal-rezessivem Erbgang, die die Erythrozyten (rote Blutkörperchen) betrifft; sie gehört zur Gruppe der Hämoglobinopathien (Störungen des Hämoglobins; Bildung eines irregulären Hämoglobins, dem sogenannten Sichelzellhämoglobin, HbS)
- Trisomie 21 (Down-Syndrom; Erbgang: meist sporadisch) – spezielle Genommutation beim Menschen, bei der das gesamte 21. Chromosom oder Teile davon dreifach (Trisomie) vorliegen. Neben für dieses Syndrom als typisch geltenden körperlichen Merkmalen sind in der Regel die kognitiven Fähigkeiten des betroffenen Menschen beeinträchtigt; des Weiteren liegt ein erhöhtes Risiko für eine Leukämie vor.
- Defekte der B-Zell-Reihe wie
- Entbindung per Sectio caesarea (Kaiserschnitt; Risikoerhöhung für Immundefekte 46 %) [4]
- Lebensalter – zunehmendes Alter (= senile Immundefizienz; Immunoseneszenz); ab dem 50. Lebensjahr nimmt die T-Zell-Immunität ab (Weiteres s. u. Pathogenese).
- Sozioökonomische Faktoren – Armut
Verhaltensbedingte Ursachen
- Ernährung
- Fehlernährung
- Mikronährstoffmangel (Vitalstoffe) – siehe Prävention mit Mikronährstoffen
- Genussmittelkonsum
- Alkohol
- Tabak (Rauchen)
- Körperliche Aktivität
- Leistungssport
- Hohe Arbeitsbelastung (z. B. Schwerarbeit)
- Schichtarbeit
- Psycho-soziale Situation
- Mobbing
- Schwerwiegende Lebenseinschnitte
- Seelische Konflikte
- Soziale Isolation
- Stress
- Schlafqualität
- Schlafmangel
- Übergewicht (BMI ≥ 25; Adipositas) (NK-Zellen Produktion ↓)
- Untergewicht (BMI < 18,5)
Krankheitsbedingte Ursachen
Grundkrankheiten
- Asplenie – Fehlen der Milz; angeboren oder erworben durch Splenektomie (Milzentfernung)
- Malignome – z. B. Leukämie (Blutkrebs; chronische lymphatische Leukämie), Lymphome (bösartige Neubildungen, die vom lymphatischen System ausgehen); Malignom nicht in Remission (Rückgang)
- Sarkoidose – entzündliche Systemerkrankung, die vor allem die Haut, die Lunge und die Lymphknoten betrifft
- Sichelzellenanämie (med.: Drepanozytose; auch Sichelzellanämie, engl.: sickle cell anemia) – genetische Erkrankung mit autosomal-rezessivem Erbgang, die die Erythrozyten (rote Blutkörperchen) betrifft; sie gehört zur Gruppe der Hämoglobinopathien (Störungen des Hämoglobins; Bildung eines irregulären Hämoglobins, dem sogenannten Sichelzellhämoglobin, HbS)
Angeborene Fehlbildungen, Deformitäten und Chromosomenanomalien (Q00-Q99)
- Alkoholembryopathie
Endokrine, Ernährungs- und Stoffwechselkrankheiten (E00-E90)
- Diabetes mellitus (Zuckerkrankheit)
- Mangelernährung
- Unterernährung
Infektiöse und parasitäre Krankheiten (A00-B99)
- Infektionskrankheiten aller Art, vor allem Infektion mit dem
- Humanen Immundefizienz-Virus (HIV)
- Epstein-Barr-Virus (EBV)
- Cytomegalievirus (CMV)
- Masern
Leber, Gallenblase und Gallenwege – Pankreas (Bauchspeicheldrüse) (K70-K77; K80-K87)
- Chronische Leberkrankheit
Psyche – Nervensystem (F00-F99; G00-G99)
- Insomnie (Schlafstörungen)
- Multiple Sklerose (MS) mit Exazerbation (deutliche Verschlechterung des Krankheitsbildes) ohne Behandlung
Mund, Ösophagus (Speiseröhre), Magen und Darm (K00-K67; K90-K93)
- Proteinverlustsyndrome (Eiweißverlustsyndrome) wie
- Eiweißverlust-Enteropathie
- Intestinale – Magen-Darm-Trakt-bezogene – Lymphagiektasie
Muskel-Skelett-System und Bindegewebe (M00-M99)
- Rheumatoide Arthritis
- Systemischer Lupus erythematodes (SLE) – Autoimmunerkrankung mit Bildung von Autoantikörpern vor allem gegen Antigene der Zellkerne (sog. antinukleäre Antikörper = ANA), unter Umständen auch gegen Blutzellen und andere Körpergewebe
Neubildungen – Tumorerkrankungen (C00-D48)
- Aplastische Anämie – Form der Anämie (Blutarmut), die durch eine Panzytopenie (Synonym: Trizytopenie; Verminderung aller drei Zellreihen im Blut; Stammzellerkrankung) und eine gleichzeitig vorliegende Hypoplasie (Funktionseinschränkung) des Knochenmarks gekennzeichnet ist.
- Tumorleiden aller Art, vor allem des lymphatischen und blutbildenden Systems
Urogenitalsystem (Nieren, Harnwege – Geschlechtsorgane) (N00-N99)
- Chronische Nierenerkrankung
- Nephrotisches Syndrom – Sammelbegriff für Symptome, die bei verschiedenen Erkrankungen des Glomerulums (Nierenkörperchen) auftreten; die Symptome sind Proteinurie (erhöhte Ausscheidung von Eiweiß mit dem Urin) mit einem Proteinverlust von mehr als 1 g/m²/Körperoberfläche/d; Hypoproteinämie, periphere Ödeme durch eine Hypalbuminämie von < 2,5 g/dl im Serum, Hyperlipoproteinämie (Fettstoffwechselstörung)
- Proteinverlustsyndrome (Eiweißverlustsyndrome) wie
- Glomerulopathien – die Nierenkörperchen betreffende pathologische Veränderungen
- Tubulopathien – die Nierenkanälchen betreffende pathologische Veränderungen
Verletzungen, Vergiftungen und andere Folgen äußerer Ursachen (S00-T98)
- Verbrennungen
Medikamente
- Antikonvulsiva (Carbamazepin)
- Hormone
- Glucocorticoide (Betamethason, Budenosid, Cortison, Dexamethason, Fluticason, Methylprednisolon, Prednisolon)
- Immunsuppressiva (Azathioprin, Ciclosporin (Cyclosporin A), Everolimus, Mycophenolsäure, Mycophenolatmofetil, Sirolimus (Rapamycin), Tacrolismus)
- Monoklonale Antikörper – Rituximab → Immundefekte mit protrahierter Depletion der B-Lymphozyten und/oder Hypogammaglobulinämie
- mTOR-Inhibitoren (Everolimus, Temsirolimus)
- Protonenpumpenhemmer (Protonenpumpeninhibitoren, PPI; Säureblocker) – Esomeprazol, Lansoprazol, Omeprazol, Pantoprazol, Rabeprazol
- Zytostatika (6-Mercaptopurin Methotrexat etc.)
Röntgenstrahlen
- Strahlenbelastungen im Bereich von 20-100 Milligray können Auswirkungen auf das Immunsystem haben [2]
- Strahlentherapie (Radiatio)
Umweltbelastungen – Intoxikationen (Vergiftungen)
- Exposition gegenüber ionisierender Strahlung
- Lärm
Weiteres
- Dialysepatienten
- Knochenmarktransplantation (KMT), < 2 Jahren oder mit Immunsuppression oder Spender-gegen-Wirt-Krankheit (graft-versus-host-disease = GvHD)
- Organtransplantation vor < 1 Jahr oder Abstoßungsbehandlung
Literatur
- Sevelsted A et al.: Cesarean Section and Chronic Immune Disorders. doi: 10.1542/peds.2014-0596
- Lumniczky K et al.: Low dose ionizing radiation effects on the immune system. Environ Int . 2021 Apr;149:106212. doi: 10.1016/j.envint.2020.106212. Epub 2020 Dec 5.