Diabetische Retinopathie – Ursachen

Pathogenese (Krankheitsentstehung) 

Die diabetische Retinopathie (DR) ist eine mikrovaskuläre Komplikation des Diabetes mellitus, die durch langjährige Hyperglykämie verursacht wird und zu einer Schädigung der Blutgefäße der Retina (Netzhaut) führt. Sie wird in verschiedene Stadien unterteilt, wobei sich die Erkrankung schrittweise von milden Veränderungen der Netzhaut bis zu schwerwiegenden, die Sehfähigkeit gefährdenden Komplikationen entwickeln kann.

Nicht-proliferative diabetische Retinopathie (NPDR)

Die nicht-proliferative diabetische Retinopathie ist das Frühstadium der Erkrankung, bei der die Retina bereits Veränderungen aufweist, jedoch noch keine neuen Blutgefäße (Neovaskularisation) gebildet werden. Charakteristische pathologische Veränderungen in dieser Phase sind:

  • Mikroaneurysmen: Kleine Ausbuchtungen in den Kapillargefäßen der Netzhaut, die durch eine Schwächung der Gefäßwände entstehen.
  • Punktblutungen: Kleine intraretinale Blutungen, die durch den Bruch von Kapillaren verursacht werden.
  • Exsudate: Durch undichte Blutgefäße tritt Flüssigkeit aus, die Lipide enthält. Diese bilden sogenannte „harte Exsudate“ auf der Netzhaut.
  • Retinale Ischämie: Kapillarverschlüsse führen zu einer verminderten Sauerstoffversorgung der Retina, was als "Minderdurchblutung" (Ischämie) bezeichnet wird.

Die nicht-proliferative Retinopathie bleibt in der Regel auf die Retina beschränkt und verursacht oft keine nennenswerten Symptome. Allerdings kann sie in fortgeschrittenen Stadien in die proliferative Form übergehen.

Präproliferative diabetische Retinopathie

Dieses Stadium markiert den Übergang zur proliferativen Form und ist durch zunehmende Gefäßanomalien gekennzeichnet. Die typischen Veränderungen sind:

  • Intraretinale mikrovaskuläre Anomalien (IRMA): Verformte und abnormale Blutgefäße innerhalb der Netzhaut.
  • Multiple Hämorrhagien: Mehrfachblutungen in der Retina.
  • Venenanomalitäten: Unregelmäßige Venengefäße mit Kalibersprüngen oder Schlaufenbildung.
  • Weiche Exsudate (Cotton-Wool-Herde): Kleine, weißliche Bereiche, die durch Kapillarverschlüsse entstehen und für eine Ischämie des Netzhautgewebes sprechen.

Proliferative diabetische Retinopathie (PDR)

In der proliferativen Phase kommt es zu einer schweren Beeinträchtigung der Netzhaut durch den Mangel an Sauerstoffversorgung (Hypoxie), was zu einer übermäßigen Ausschüttung von angiogenen Wachstumsfaktoren, insbesondere Vascular Endothelial Growth Factor (VEGF), führt. Diese stimulieren die Neubildung von Blutgefäßen, was jedoch zu weiteren Komplikationen führt:

  • Neovaskularisation der Retina und Iris (Rubeosis iridis): Neue, fragile Blutgefäße wachsen sowohl auf der Netzhaut als auch auf der Regenbogenhaut, was das Risiko eines neovaskulären Glaukoms erhöht.
  • Glaskörpereinblutungen: Die neu gebildeten Gefäße sind brüchig und bluten leicht in den Glaskörper, was zu einem plötzlichen Verlust des Sehvermögens führen kann.
  • Traktive Netzhautablösung (Ablatio retinae): Fibrotisches Gewebe, das sich infolge wiederholter Glaskörpereinblutungen bildet, zieht an der Netzhaut und kann sie von der Unterlage abheben, was eine Netzhautablösung verursacht.

Diabetisches Makulaödem (DMÖ)

Zusätzlich zur diabetischen Retinopathie kann bei etwa 15 % der Patienten ein diabetisches Makulaödem auftreten. Hierbei handelt es sich um eine Ansammlung von Flüssigkeit in der Makula, dem Bereich des schärfsten Sehens. Die Folge ist eine Schwellung, die zu erheblichen Sehstörungen führen kann.

Gefäßveränderungen und Sehverlust

Der Sehverlust bei diabetischer Retinopathie beruht auf einer Reihe pathologischer Gefäßveränderungen:

  • Gesteigerte Kapillarpermeabilität: Die Blutgefäße werden undicht, was zu Flüssigkeitsansammlungen und Exsudaten auf der Netzhaut führt.
  • Progressiver Kapillarverschluss: Kapillaren verschließen sich, was zur Minderdurchblutung (Ischämie) der Retina führt. Dies aktiviert die Freisetzung von VEGF, was zu einer Gefäßproliferation führt.
  • Spätfolgen: Diese Veränderungen münden in schwerwiegende Komplikationen wie Glaskörpereinblutungen, traktive Netzhautablösungen (Ablatio/Amotio retinae) und neovaskuläres Glaukom.

Zusammenfassung

Die diabetische Retinopathie ist eine fortschreitende Erkrankung, die durch die Schädigung der retinalen Blutgefäße im Zusammenhang mit Diabetes verursacht wird. Die Pathogenese reicht von anfänglichen Mikroaneurysmen und Blutungen über die Neovaskularisation bis hin zur Netzhautablösung und Erblindung. Das diabetische Makulaödem stellt eine zusätzliche, häufig auftretende Komplikation dar, die ebenfalls zu einem signifikanten Verlust des Sehvermögens führt.

Ätiologie (Ursachen)

Biographische Ursachen

  • Genetische Belastung durch Eltern, Großeltern
  • Geschlecht – bevorzugt männliches Geschlecht bei Typ-1-Diabetes
  • Hormonelle Faktoren
    • Hormonelle Umstellung in der Pubertät
    • Grad der Hyperglykämie (Überzuckerung)
    • Form des Diabetes (Typ 1 oder Typ 2)
    • Krankheitsdauer des Diabetes mellitus 

Verhaltensbedingte Ursachen

  • Ernährung
    • Magnesiummangel [1] – siehe Mikronährstofftherapie
  • Genussmittelkonsum
    • Tabak (Rauchen) (bei Typ-1-Diabetes ist Rauchen eindeutig ein Risikofaktor für eine Retinopathie)
  • Therapie des Diabetes mellitus – bei optimal eingestellten Glucose-Serumspiegel kann die Erkrankung verzögert werden

Krankheitsbedingte Ursachen

  • Adipositas (Übergewicht) – Risikofaktor für die Entwicklung einer diabetischen Retinopathie bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen [9]
  • Diabetes mellitus
    • latenter Autoimmundiabetes des Erwachsenen (LADA) geht im Vergleich zum Typ-2-Diabetes mit einem höheren Risiko für eine diabetische Retinopathie einher; gilt insbesondere bei LADA mit hohen GAD-Antikörperspiegeln [6].
  • Diabetische Nephropathie (Nierenerkrankung) – Risikofaktor für die Entstehung bzw. Progression einer diabetischen Retinopathie und/oder Makulopathie
  • Gestationshypertonie (Bluthochdruck in der Schwangerschaft)/Präeklampsie (4,1-fach) [4]
  • Hyperglykämien ("Überzuckerungen") (ca. 10 % des Risikos) [3]
  • [Hyperlipidämie (erhöhte Blutfettwerte)] – gilt laut einer internationalen Fall-Kontroll-Studie mit 2.535 Diabetes-Typ-2 Patienten nicht mehr als Risikofaktor [2]
  • Hypertonie (Bluthochdruck) – Risikofaktor für die Entwicklung einer diabetischen Retinopathie bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen [9]

Labordiagnosen – Laborparameter, die als unabhängige Risikofaktoren gelten

  • HbA1c (erhöht) – Für jede Retinopathie war der mittlere HbA1c-Wert der stärkste Risikofaktor [9]

Medikamente

  • Glucagon-like peptide-1-Rezeptoragonisten (GLP-1-RA) – Risiko für frühe Stadien einer diabetischen Retinopathie und frühe Stadien retinaler Nebenwirkungen war gegenüber Placebo um rund 30 Prozent erhöht. Der Effekt war vornehmlich auf einen GLP-1-RA zurückzuführen, der bereits seit 2017 vom Hersteller aus wirtschaftlichen Gründen vom Markt genommen wurde: Albiglutid [5].
  • Insuline, für kurz wirksame OR (Odds-Ratio) von 1,63 (95-%-Konfidenzintervall [KI] 1,22-2,18), für mittelgradig wirkende Insuline mit einer OR von 2,10 (95-%-KI 1,60-2,75) [7]
  • Sulfonylharnstoffe (Glibenclamid, Glibornurid, Gliclazid, Glimepirid, Tolbutamid): OR von 1,30 (95-%-KI 1,16-1,46) [7]

Operationen

  • Kataraktoperation [8] – Nach einer solchen Operation erhöhte sich das Risiko für Diabetiker, erstmals eine diabetische Retinophatie (DR) zu entwickeln, im Vergleich zu einer nicht-operierten Kontrollgruppe um 38 Prozent. Für Patienten, die präoperativ bereits eine DR hatten, war das Risiko für ein Fortschreiten der Erkrankung hinterher um 46 Prozent erhöht [8]. 

Weitere Ursachen

  • Hormonelle Umstellungen in der Schwangerschaft

Literatur

  1. Ehrlich B, Wadepuhl M: Erhöhtes Risiko einer diabetischen Retinopathie bei niedrigem Serum-Magnesium. Diabetes und Stoffwechsel 2003;12:285-9
  2. Hammes HP, Kerner W, Hofer S et al.: Diabetic retinopathy in type 1 diabetes – a contemporary analysis of 8,784 patients. Diabetologia 2011; 54(8):1977-84. doi: 10.1007/s00125-011-2198-1
  3. Hirsch IB, Brownlee M: Beyond hemoglobin A1c – need for additional markers of risk for diabetic microvascular complications. JAMA 2010; 303 (22): 2291-2. doi: 10.1001/jama.2010.785.
  4. Auger N et al.: Preeclampsia and Long-term Risk of Maternal Retinal Disorders. Obstet Gynecol. 2017 Jan;129(1):42-49. doi: 10.1097/AOG.0000000000001758
  5. Kapoor I et al.: GLP-1 receptor agonists and diabetic retinopathy: A meta-analysis of randomized clinical trials Survey of Ophthalmogy Published:July 14, 2023 doi:https://doi.org/10.1016/j.survophthal.2023.07.002
  6. Wei Y et al.: All-Cause Mortality and Cardiovascular and Microvascular Diseases in Latent Autoimmune Diabetes in Adults Diabetes Care 2023;46(10):1857–1865 https://doi.org/10.2337/dc23-0739
  7. Jin G et al.: Evaluation of systemic medications associated with diabetic retinopathy: a nested case–control study from the UK Biobank British Journal of Ophthalmology Published Online First: 20 May 2024. doi: 10.1136/bjo-2023-324930
  8. Lee SH et al.: Incidence and Progression of Diabetic Retinopathy After Cataract Surgery: A Systematic Review and Meta-Analysis American Journal of Ophthalmology, 2024;269:105-115
  9. Ahmadi SS et al.: Risk Factors for Retinopathy in Young Adults With Type 1 Diabetes JAMA Ophthalmol. Published online December 12, 2024. doi:10.1001/jamaophthalmol.2024.5274