Turner-Syndrom – Einleitung
Das Turner-Syndrom ist eine angeborene Erkrankung, bei der aufgrund einer Chromosomenaberration (Abnormalitäten der Geschlechtschromosomen) anstelle der zwei Geschlechtschromosomen XX nur ein funktionsfähiges X-Chromosom in allen oder nur in einem Teil aller Körperzellen vorliegt. Es gibt auch den Fall, dass das zweite X-Chromosom vorhanden ist, aber strukturell verändert vorliegt.
Synonyme und ICD-10: 45,X/46,XX-Mosaik; 45,X/46,XY-Mosaik; Gonadendysgenesie; Karyotyp 45,X; Karyotyp 46,X iso (Xq); Karyotyp 46,X mit Gonosomenanomalie, ausgenommen iso (Xq); Mosaik 45, X/Zelllinien a.n.k. mit Gonosomenanomalie; Turner-Anomalie der Geschlechtschromosomen; Turner-Syndrom; Ullrich-Turner-Syndrom; X-Monosomie; X0-Syndrom; ICD-10-GM Q96.-: Turner-Syndrom
Das Turner-Syndrom tritt nur bei Mädchen bzw. Frauen auf. Aufgrund der Chromosomenanomalie kommt es zu einem Mangel an Wachstums- und Geschlechtshormonen.
Charakteristische Laborbefunde
Hormonelle Befunde
- Erniedrigter Östradiolspiegel
- Östradiol: Deutlich vermindert aufgrund der Ovarialinsuffizienz, was zur primären Amenorrhoe (Ausbleiben der Menstruation) und fehlenden sekundären Geschlechtsmerkmalen führt.
- Erhöhter FSH- und LH-Spiegel
- Follikelstimulierendes Hormon (FSH): Stark erhöht aufgrund der mangelnden Rückkopplung durch Östradiol. Werte oft > 40 mIU/ml.
- Luteinisierendes Hormon (LH): Ebenfalls erhöht, meist im Verhältnis zum FSH weniger stark, aber dennoch über dem Normalbereich.
- Vermindertes Anti-Müller-Hormon (AMH)
- AMH: Sehr niedrig oder nicht nachweisbar, was auf die fehlende oder stark reduzierte Anzahl von Eizellen in den Ovarien (Eierstöcken) hinweist.
- Wachstumshormon (GH) und IGF-1 (Insulin-like Growth Factor 1)
- Wachstumshormon (GH): Die basalen Spiegel des Wachstumshormons können normal oder niedrig sein. Allerdings ist die Antwort auf stimulierende Tests, die die Ausschüttung von Wachstumshormon anregen sollen, oft vermindert.
- IGF-1: Der Spiegel von IGF-1, welches die Hauptwirkung von Wachstumshormon im Körper vermittelt, ist häufig niedrig. Dies reflektiert eine Wachstumsstörung, die typisch für das Turner-Syndrom ist.
Genetische Diagnostik
- Karyotypisierung: 45,X: Der Nachweis eines vollständigen oder teilweisen Fehlens eines X-Chromosoms bestätigt die Diagnose des Turner-Syndroms.
- Mosaike: Es können auch Mosaikformen vorliegen, wie 45,X/46,XX oder 45,X/46,XY, die ebenfalls diagnostisch relevant sind.
Weitere Laborbefunde
- Schilddrüsenfunktion
- TSH (Thyreoidea-stimulierendes Hormon): Kann erhöht sein, da Autoimmunthyreoiditis (z. B. Hashimoto-Thyreoiditis) häufig beim Turner-Syndrom vorkommt.
- T3/T4: Kann normal oder verändert sein, abhängig vom Zustand der Schilddrüse.
- Glukosestoffwechsel
- Nüchternglucose und HbA1c: Erhöhte Werte können auftreten, da Patientinnen mit Turner-Syndrom ein erhöhtes Risiko für Insulinresistenz und Diabetes mellitus haben.
- Nierenfunktion
- Kreatinin und Harnstoff: Können überwacht werden, da strukturelle Anomalien der Nieren beim Turner-Syndrom häufiger sind.
- Lipidprofil
- Gesamtcholesterin und LDL: Erhöhtes Risiko für Dyslipidämie, weshalb diese Werte oft überwacht werden.
- Knochenstoffwechselmarker
- Alkalische Phosphatase, Kalzium und Vitamin D: Bei erhöhtem Risiko für Osteopenie und Osteoporose, bedingt durch Östrogenmangel, sind diese Marker relevant.
- Leberfunktionstests
- ALT/AST: Leberfunktionstests können auffällig sein, da eine erhöhte Inzidenz von Lebererkrankungen beobachtet wird.
Formen des Turner-Syndroms
Das Turner-Syndrom kann in verschiedenen Formen auftreten:
- Klassisches Turner-Syndrom: Vollständiges Fehlen eines X-Chromosoms in allen Zellen (45,X).
- Mosaik-Turner-Syndrom: Das Fehlen eines X-Chromosoms in einigen Zellen, während andere Zellen den normalen Chromosomensatz (46,XX) oder andere Anomalien aufweisen (z. B. 45,X/46,XX).
- Strukturelle Anomalien des X-Chromosoms: Vorhandensein eines strukturell veränderten X-Chromosoms.
Das Krankheitsbild ist mit den unterschiedlichsten Symptomen assoziiert (siehe "Symptome – Beschwerden"). Das Syndrom ist voll ausgeprägt, wenn ein X-Chromosom fehlt. Charakteristisch sind Minderwuchs und ausbleibende Pubertät.
Ursache für die Erkrankung sind Spontanmutationen. Das Turner-Syndrom kann nicht vererbt werden.
Epidemiologie
Häufigkeitsgipfel: Man schätzt, dass ca. 3 % der weiblichen Embryonen ein funktionelles Turner-Syndrom aufweisen, doch nur 1-2 % sterben nicht während der Schwangerschaft ab.
Prävalenz (Krankheitshäufigkeit): Diese liegt bei 0,0004 % bei weiblichen Lebendgeburten (in der Welt).
Inzidenz (Häufigkeit von Neuerkrankungen): Diese beträgt ca. 10 Erkrankungen pro 100.000 Einwohner pro Jahr bei weiblichen Lebendgeburten (in der Welt).
Verlauf und Prognose
Verlauf
Schon bei der Geburt lassen sich erste Charakteristika des Turner-Syndroms erkennen. So werden sowohl Lymphödeme (Einlagerung von Lymphflüssigkeit im Gewebe) als auch eine Pterygium colli (flügelförmige seitliche Halsfalten/Flügelfell) beobachtet. In der Pubertät kommt es zum Ausbleiben von Menstruation (Amenorrhoe) sowie zur Unterentwicklung geschlechtsspezifischer Merkmale (primäre Amenorrhoe). Ebenfalls ist das Körperwachstum stark verringert.
Prognose
Die Prognose des Turner-Syndroms ist in der Regel gut, insbesondere mit frühzeitiger Diagnose und angemessener medizinischer Betreuung. Eine Therapie mit Wachstums- und Geschlechtshormonen ermöglicht den Betroffenen ein annähernd normales Leben. Die kognitive Fähigkeit ist in der Regel nur geringfügig beeinträchtigt, und signifikante Entwicklungsprobleme treten in lediglich 10 % der Fälle auf [1]. In 2 % der Fälle kann eine natürliche Schwangerschaft eintreten, allerdings ist diese häufig mit einer hohen Rate von Aborten (Fehlgeburten) verbunden [2].
Die Mortalität (Sterblichkeit) ist im Vergleich zur Normalbevölkerung nur geringfügig erhöht. Mit zunehmendem Lebensalter sinkt das Risiko, an den angeborenen Fehlbildungen (vor allem Herzabnormalitäten) zu sterben, stetig [3].
Komorbiditäten
Das Turner-Syndrom ist vermehrt mit metabolischen Störungen, vor allem Übergewicht, vergesellschaftet [4, 5].
Durch das Turner-Syndrom ist das Risiko, an einer Hämophilie (Bluterkrankheit) zu erkranken, weitaus höher, da das übliche zweite funktionsfähige X-Chromosom fehlt.
Literatur
- Gonzalez L et al.: The Patient with Turner Syndrome: Puberty and Medical Management Concerns. Fertil Steril. 2012 Oct; 98 (4): 780-7
- Abir R et al.: Turner's syndrome and fertility: current status and possible putative prospects. Hum Reprod Update. 2001 Nov-Dec; 7 (6): 603-10
- Price WH et al.: Mortality ratios, life expectancy, and causes of death in patients with Turner's syndrome. J Epidemiol Community Health. 1986 Jun; 40 (2): 97-102
- Lebenthal Y et al.: The Natural History of Metabolic Comorbidities in Turner Syndrome from Childhood to Early Adulthood: Comparison between 45, X Monosomy and Other Karyotypes. Front Endocrinol (Lausanne). 2018; 9: 27. Published online 2018 Feb 9. doi: 10.3389/fendo.2018.00027
- Hanew K et al.: Women with Turner syndrome are at high risk of lifestyle-related disease – From questionnaire surveys by the Foundation for Growth Science in Japan. Endocr J. 2016 May 31; 63 (5): 449-56. doi: 10.1507/endocrj.EJ15-0288. Epub 2016 Feb 11
Leitlinien
- Gravholt CH, Andersen NH, Conway GS, Dekkers OM, Geffner ME, Klein KO, Lin AE, Mauras N, Quigley CA, Rubin K, Sandberg DE, Sas TCJ, Silberbach M, Söderström-Anttila V, Stochholm K, van Alfen-van der Velden JA, Woelfle J, Backeljauw PF: International Turner Syndrome Consensus Group. Clinical practice guidelines for the care of girls and women with Turner syndrome: proceedings from the 2016 Cincinnati International Turner Syndrome Meeting. Eur J Endocrinol 2017;177(3):G1-G70. doi: 10.1530/EJE-17-0430.