Anaphylaktischer Schock – Ursachen

Pathogenese (Krankheitsentstehung)

Der anaphylaktische Schock ist eine schwerwiegende, potenziell tödliche Reaktion des Immunsystems auf bestimmte Allergene, wie Nahrungsmittel, Insektengifte oder Medikamente. Es handelt sich hierbei in der Regel um eine Soforttyp-Allergie (Allergie vom Typ I), auch bekannt als Typ-I-Allergie, die durch das Immunglobulin E (IgE) vermittelt wird.

Sensibilisierung und Zweitreaktion

Der Erstkontakt mit dem Allergen, die sogenannte Sensibilisierung, verläuft typischerweise symptomlos. Während dieser Phase erkennen T- und B-Lymphozyten unabhängig voneinander das betreffende Allergen. Bei einem erneuten Kontakt mit demselben Allergen tritt eine IgE-vermittelte Reaktion auf. Dabei bindet das Allergen an das bereits auf Mastzellen gebundene IgE. Dies führt zur Degranulation der Mastzellen und zur Freisetzung einer Vielzahl von Mediatoren, darunter Histamin, Leukotriene, Prostaglandine, Tryptase, Chemokine, der plättchenaktivierende Faktor und verschiedene Zytokine.

Symptome

Die freigesetzten Mediatoren lösen die typischen Symptome einer allergischen Reaktion aus, die von milden bis zu schweren Verläufen reichen können:

  • Urtikaria (Nesselsucht): tritt typischerweise innerhalb von 15-20 Minuten auf, gefolgt von einer zweiten, IgE-vermittelten Phase nach 6-8 Stunden.
  • Rhinitis (Nasenschleimhautentzündung)
  • Angioödem (plötzlich auftretende Schwellungen der Haut oder Schleimhäute)
  • Bronchospasmus (Verkrampfung der Atemwegsmuskulatur)
  • Anaphylaktischer Schock: die schwerste Form einer anaphylaktischen Reaktion, die unbehandelt tödlich enden kann.

Pseudoallergische Reaktionen

Wichtig ist, dass ein anaphylaktischer Schock auch ohne vorherige immunologische Sensibilisierung auftreten kann. Solche Reaktionen werden als pseudoallergische Reaktionen oder nicht allergische Anaphylaxien bezeichnet. Diese unterscheiden sich von klassischen Allergien dadurch, dass sie nicht IgE-vermittelt sind, sondern direkt auf die Freisetzung von Histamin und anderen Mediatoren reagieren [1].

Häufigste Auslöser einer Anaphylaxie bei Kindern und Erwachsenen [3, 4]  

 Auslöser  Kinder (%)  Erwachsene (%)
 Nahrungsmittel  58  16
 Insektengifte/Insektengiftallergene  24  55
 Medikamente 
(insb. nichtsteroidale Entzündungshemmer (NSAID) und Antibiotika)
 8  21

Allergenexposition

Der Kontakt mit dem Allergen erfolgt in den meisten Fällen oral (über die Nahrung) oder parenteral (z. B. durch Injektionen oder Infusionen). In selteneren Fällen kann das Allergen auch aerogen (über die Luft) oder durch kutane (über die Haut) Exposition aufgenommen werden.

Ätiologie (Ursachen)

Faktoren, die eine Anaphylaxie verstärken bzw. bei Zusammentreffen mehrerer dieser Faktoren eine Anaphylaxie auslösen können (= Augmentationsfaktoren) [2] 

  • Hormonelle Faktoren (z. B. Menstruation)
  • Körperliche Belastung
  • Bestimmte Nahrungsmittel (Nahrungsmittelallergien) und -zusatzstoffe
  • Psychogene Faktoren (z. B. Stress)
  • Alkohol
  • Infektionserkrankungen
  • Mastozytose – zwei Hauptformen: kutane Mastozytose (Hautmastozytose) und systemische Mastozytose (Mastozytose des gesamten Körpers); klinisches Bild
    • kutane Mastozytose: gelblich-braune Flecken mit unterschiedlicher Größe (Urticaria pigmentosa);
    • systemische Mastozytose: hier treten zudem episodisch gastrointestinale (Magen-Darm) Beschwerden (Nausea (Übelkeit), brennende Abdominalschmerzen/Bauchschmerzen und Diarrhoe/Durchfall), Ulkuskrankheit sowie gastrointestinale Blutungen und Malabsorption (unzureichende Aufspaltung der Nahrungsbestandteile) auf.
      Bei der systemischen Mastozytose kommt es zu einer Anhäufung von Mastzellen (Zelltyp, der u. a. an allergischen Reaktionen beteiligt ist) im Knochenmark, wo sie gebildet werden, sowie zur Anhäufung in der Haut, den Knochen, der Leber, der Milz und dem Gastrointestinaltrakt (GIT); Mastozytose ist nicht heilbar; Verlauf in der Regel benigne (gutartig) und Lebenserwartung normal; extrem selten entarten Mastzellen (= Mastzellleukämie)

      Die Prävalenz (Krankheitshäufigkeit) von Insektengiftallergie/Venomallergie bei Patienten mit systemischer Mastozytose beträgt 20-30 %; Bevölkerungsdurchschnitt (0,3-8,9 %)
  • Medikamente (s. u. Arzneimittelexanthem/Ursachen)

Biographische Ursachen

  • Alter – Kindesalter
  • Männliches Geschlecht

Verhaltensbedingte Ursachen (hier: Co-Erkrankungen)

  • Genussmittelkonsum
    • Alkohol

Krankheitsbedingte Ursachen (hier: Co-Erkrankungen)

  • Asthma bronchiale
  • Kardiale Erkrankung
  • Kontaktdermatitis (Hautveränderung, die durch den Hautkontakt zu bestimmten Stoffen ausgelöst wird), toxische oder allergische – Reaktion vom Soforttyp (Allergie vom Typ I) durch Kontakt mit Haarfärbemitteln (Paraphenylendiamin, PPD) oder auch Bleich- und Oxidationsmittel (Ammoniumpersulfat)
  • Mastozytose (s. o.)
  • Schilddrüsenerkrankungen

Medikamente

  • ACE-Inhibitoren (ACE-Hemmer) [S2k-Leitlinie]
  • Impfstoffe (Die Berichtsrate pro 1 Million Impfungen beträgt je nach Impfstoff und Impfdosis 1-6)
    • Comirnaty® (COVID-19 mRNA Impfstoff [Nukleosid-modifiziert])
    • Spikevax® (COVID-19 mRNA Impfstoff [Nukleosid-modifiziert])
    • Vaxzevria® (COVID-19-Impfstoff von AstraZeneca)
    • COVID-19 Vaccine Janssen
  • Betablocker  mit einem erhöhten Risiko für schwere Anaphylaxie assoziiert (Odds-Ratio: 1,86) [S2k-Leitlinie]
  • Misteltherapie
  • Orale Immuntherapie (OIT) bei Kindern wg. Erdnuss-Allergie
    Beachte: Die OIT mit Erdnuss erhöhte das Risiko und die Häufigkeit der Anaphylaxie um etwa das Dreifache im Vergleich zum Verzicht auf diese Therapie (22, 2 vs. 7,1 Prozent); OIT-Kinder benötigten etwa doppelt so häufig Adrenalin als Notfallmedikation wie die Kinder aus der Kontrollgruppe ohne die orale Immuntherapie [5].
  • Tumormedikamente – Carboplatin, Cetuximab, Cisplatin, Docetaxel, Paclitaxel, Trastuzumab [6]
  • s. u. Arzneimittelexanthem/Ursachen

Weitere Faktoren

  • Grad der Sensibilisierung
  • Höhe des sIgE

Literatur

  1. Ring J. Angewandte Allergologie. München: Urban & Vogel 2004
  2. Beyer K, Niggemann BX: Anaphylaxie, in Allergien bei Kindern und Jugendlichen. Grundlagen und klinische Praxis, Klimek L, Pfaar O, Rietschel E, Herausgeber. 2014, Kap. 31. Schattauer. 407-412.
  3. Campbell RL et al.: Emergency department diagnosis and treatment of anaphylaxis. Ann Allergy Asthma Immunol 113 (2014):599-608
  4. Grabenhenrich L et al (2012) Implementation of anaphylaxis management guidelines: a register-based study. PLOS ONE 2012;7(5):e35778. doi: 10.1371/journal.pone.0035778. Epub 2012 May 10.
  5. Chu DK et al.: Oral immunotherapy for peanut allergy (PACE): a systematic review and meta-analysis of efficacy and safety. Lancet Published: April 25, 2019 doi:https://doi.org/10.1016/S0140-6736(19)30420-9
  6. Horita N et al.: Severe anaphylaxis caused by intravenous anti-cancer drugs. Cancer Medicine 2021; https://onlinelibrary.wiley.com/doi/10.1002/cam4.4252

Leitlinien

  1. S2k-Leitlinie: Akuttherapie und Management der Anaphylaxie. (AWMF-Registernummer: 061-025), Januar 2021 Langfassung