Herzfrequenzvariabilität (HFV)
Herzfrequenzvariabilität (HFV) bezeichnet die Variation der Zeitintervalle zwischen aufeinanderfolgenden Herzschlägen und dient als Standardverfahren zur Messung der autonomen Nervenfunktion.
Der menschliche Körper reagiert kontinuierlich auf sich wandelnde physikalische und psychosoziale Umweltreize, von denen viele unbewusst bleiben. Diese Reize beeinflussen die Funktion unserer Organe und können das physiologische Gleichgewicht stören, was Krankheiten begünstigen kann. Um das Gleichgewicht zu erhalten, muss der Körper sowohl auf akute Belastungen reagieren als auch in Ruhephasen regenerieren. Das autonome Nervensystem (ANS) reguliert dabei essenzielle Funktionen wie kardiovaskuläre/Herz-Gefäß, thermoregulatorische und gastrointestinale /Magen-Darm Aktivitäten und spielt eine zentrale Rolle in der Aufrechterhaltung der Homöostase und Gesundheit des Menschen. Störungen in der vegetativen Innervation durch das ANS können weitreichende pathophysiologische Effekte haben und zu Funktionsstörungen führen.
Es gibt keine Krankheit, bei der nicht eine vegetative Innervationsstörung beteiligt ist. Jedes Organ ist durch Neurone vom ANS innerviert und wird von diesem reguliert.
Durch eine Verschiebung der sympathovagalen Balance, sind Störungen der autonom-nervösen Regulationsfähigkeit unmittelbar in eine Vielzahl von somatischen und psychosomatischen Erkrankungen wie auch von psychischen Störungen involviert.
Störungen der autonom-nervösen Regulationsfähigkeit liegen vor bei:
- Angst- und Panikstörungen
- Arteriosklerotischen und thrombotischen Gefäßveränderungen
- Burnout-Syndrom
- Cephalgie (Kopfschmerzen)
- Chronisches Müdigkeitssyndrom (Chronic-Fatigue-Syndrom; CFS)
- Depressiver Verstimmung
- Diabetes mellitus
- Funktionelle Dyspepsie (Reizmagen)
- Fibromyalgie (Fibromyalgie-Syndrom)
- Herzrhythmusstörungen (HRS) – Vorhofflimmern (VHF)
- Hypertonie (Bluthochdruck)
- Morbus Parkinson
- Orthostatischen Belastungsstörungen
- Vertigo (Schwindel)
- Verschiedenen Formen somatischer Störungen
Der mediale präfrontale Cortex (= Teil des Frontallappens der Cortex cerebri) beeinflusst dabei die Herzfrequenzvariabilität (HFV).
Zielsetzung der Herzfrequenzvariabilitätsmessung (HFV)
Die Herzfrequenzvariabilität (HFV) ist ein aussagekräftiger Indikator für die Anpassungsfähigkeit des Herzens an ständig wechselnde Umwelt- und Körperbedingungen. Die Messung der HFV dient daher primär der Bewertung der autonomen Herzregulation und der kardialen Gesundheit. Durch die Analyse der HFV können frühzeitig Risiken für kardiovaskuläre Erkrankungen identifiziert und präventive Maßnahmen eingeleitet werden. Ziel ist es, durch eine verbesserte autonome Regulation die Resilienz gegenüber stressbedingten und kardiovaskulären Erkrankungen zu erhöhen.
Indikationen (Anwendungsgebiete)
Das Verfahren der Herzfrequenzvariabilitätsanalyse findet nicht nur Anwendung in der Herzkreislauf-Diagnostik, sondern auch bei zahlreichen anderen klinischen Fragestellungen. Die HFV ist in der Zwischenzeit unter anderem als unabhängiger Prädiktor von hoher Aussagekraft für das Mortalitätsrisiko nach Myokardinfarkt anerkannt sowie als früher Warnhinweis auf die Entwicklung einer diabetischen Neuropathie.
Herzkreislauf
- Vorhersage des Risikos für Erkrankungen des Herzkreislaufsystems, wie z. B.
- Herzinsuffizienz (Herzschwäche)
- Myokardinfarkt (Herzinfarkt)
- Plötzlicher Herztod (PHT)
- unabhängiger Prädiktor für die kardiovaskuläre Mortalität (Herz- und gefäßbedingte Sterberate) bei VHF (Vorhofflimmern) [24]
- Risikostratifizierung nach akutem Myokardinfarkt
- Messung der Auswirkung von koronaren Bypass-Operationen
- Beurteilung der Auswirkungen von Rehamaßnahmen nach Myokardinfarkt
Diabetes mellitus und Medikationskontrolle
- Frühzeitiges Erkennen des Gefährdungsrisikos für diabetische Neuropathie
- Kontrolle des Therapieverlaufs bei psychophysiologischen Behandlungen mittels Betablockern, Antiarrhythmika, Diuretika und blutdrucksenkenden Mitteln
Nervensystem
- Identifikation von Personen, die ein erhöhtes Risiko für Morbus Parkinson aufweisen: Eine verringerte Herzfrequenzvariabilität war mit einem erhöhten Risiko assoziiert [21].
- Die Analyse der Herzfrequenzvariabilität in einem 15-minütigen EKG kann die Differentialdiagnose zwischen einer depressiven Phase, einer bipolaren Störung und einer Major Depression erleichtern; bipolare Störung geht dabei mit einer verminderten Herzfrequenzvariabilität einher, was sich darin begründet, dass die bipolare Störung mit einer Dysregulation des autonomen Nervensystems einhergeht, die auch in der depressiven Phase anhält. Ebenso war bei den Patienten, die eine bipolare Störung hatten, die respiratorische Sinusarrhythmie abgeschwächt und die beiden Entzündungsparameter Interleukin-10 und MCP-1 (Monocyte Chemoattractant Protein-1) im Blut waren erhöht [23].
Stress und Alltag
- Erfassung der individuellen Stressbelastung und Stressresistenz
- Als Kontrollparameter bei körperlicher Beanspruchung
- Kontrolle der Auswirkungen eines veränderten Lebensstils z. B. durch Rauchen, Alkohol und Medikamente
- Erfassung von Gefährdungen aufgrund altersbedingter Veränderungen
Sport und Fitness
- Messung des Trainingserfolgs bei Leistungssportlern
- Kontrolle der Auswirkung eines Belastungstrainings
- Kontrolle der Belastungsintensität zur Vermeidung von Übertraining
- Anpassung der Trainingsintensität an die individuelle Belastungsfähigkeit
- Erfassung von Perioden erhöhter Gefährdung bei körperlichen Beanspruchungen
- Erhöhung der Trainingsmotivation durch Verlaufskontrolle
Vor der Untersuchung
Um verlässliche Daten in der Herzfrequenzvariabilitätsanalyse zu erhalten, sollte der Patient vor der Untersuchung bestimmte Vorbereitungen treffen:
- Vermeidung von koffeinhaltigen Getränken und Alkohol mindestens 24 Stunden vor der Messung.
- Vermeidung schwerer körperlicher Anstrengungen am Tag der Messung.
- Sicherstellung einer ausreichenden Nachtruhe vor der Messung.
- Patienten sollten mindestens 15 Minuten vor Beginn der Messung ruhig sitzen, um den Einfluss von körperlicher Aktivität auf die HFV zu minimieren.
Das Verfahren
Die Messung der Herzratenvariabilität (HRV)/Herzfrequenzvariabilität (HFV), d. h. Schwankungen der Herzfrequenz von Schlag zu Schlag, erfolgt über die zeitliche Auflösung der RR-Abstände (Abstand zwischen zwei R-Zacken im EKG). Bei zeitbezogener Messung werden die Intervalle der Herzaktionen über die Zeit gemessen und daraus Mittelwerte und Standardabweichung ermittelt.
Die Messung der HFV erfolgt in Millisekunden (ms).
Einfluss auf die HFV haben biographische Faktoren (z. B. Alter, Geschlecht), Lebensstil sowie Atmung* und Trainingszustand.
*Hohe Atemfrequenzen sind häufig ein Hinweis auf Stress- und Belastungssituationen und können eine Erklärung für eine erniedrigte HFV sein.
Die normale Atemfrequenz von Erwachsenen, die sich nicht körperlich anstrengen, liegt bei 12 bis 20 pro Minute.
Mögliche Befunde und ihre Bedeutung
- Niedrige HFV: Kann auf eine geringe parasympathische Aktivität hinweisen und ist häufig mit erhöhtem Stress, Angstzuständen und einem erhöhten Risiko für kardiovaskuläre Erkrankungen assoziiert.
- Hohe HFV: Wird im Allgemeinen als Zeichen einer gesunden, flexiblen Regulation des Herzens durch das autonome Nervensystem angesehen. Hohe HFV-Werte sind oft mit besserer kardiovaskulärer Gesundheit und geringerem Stressniveau verbunden.
- Veränderungen im Tagesverlauf: Die Analyse der HFV im Tagesverlauf kann Aufschluss über die Anpassungsfähigkeit des Herzkreislaufsystems an unterschiedliche Belastungen und Erholungsphasen geben.
Die Messung der HFV bietet somit wertvolle Einblicke in die gesundheitliche Gesamtsituation des Patienten und kann als Grundlage für die Entwicklung individueller Gesundheits- und Trainingsprogramme dienen.
Faktoren, die die Herzfrequenzvariabilität (HFV) beeinflussen
Biographische Faktoren
Genetik |
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Geschlecht |
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Alter |
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Körpergewicht |
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Krankheit(en) |
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Verhaltensbedingte Faktoren (Lebensstil)
Ernährung |
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Rauchen |
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Alkohol |
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Koffeinkonsum | HFV ↓ |
Schlaf |
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Körperliche Aktivität |
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Stress/emotionales Bewusstsein |
Ein stärkeres emotionales Bewusstsein hat sich als Indikator für eine höhere Herzratenvariabilität während einer Thriller-Szene in einem Film erwiesen [25]. |
Meditation und Atemtechniken | HFV ↑ [22] |
Training
Moderates Ausdauertraining | HFV ↑ [22] |
Aerobes Training |
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Trainingsvolumen |
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Trainingsintensität |
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Ungewohntes Training |
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Trainings- vs. Ruhetage |
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Literatur
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Leitlinien
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